Mittwoch, 24. November 2010

Cannabis beim Tourette-Syndrom

Franjo Grotenhermen ist Vorstand und Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Cannabis als Medizin

In den Niederlanden gibt es für die Verschreibung von Cannabis aus der Apotheke nur vergleichsweise wenige akzeptierte Indikationen. Dazu zählt neben chronischen Schmerzen, Spastik bei multipler Sklerose und einigen anderen Erkrankungen auch das Tourette-Syndrom. Es ist nach seinem Erstbeschreiber, Dr. Gilles de la Tourette, benannt. Das Tourette-Syndrom ist eine komplexe neuropsychiatrische Erkrankung, die meistens in der Kindheit und der Jugend beginnt. Sie ist durch so genannte Tics charakterisiert, plötzliche Zuckungen vor allem des Gesichts-, Hals- und Schulterbereichs (Mundverzerren, ruckartige Kopfdrehungen). Es besteht zudem mindestens ein vokaler Tic, bei dem unwillkürlich ein Laut oder Schimpfwort ausgerufen wird. Dazu können auch Verhaltensstörungen wie Aggressionen gegen sich selbst und Hypersexualität auftreten. Es bestehen häufig gleichzeitig auch Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen oder Zwangsgedanken und -handlungen.
Das heutige Wissen zur Wirksamkeit von THC und Cannabis bei dieser oft schwer zu behandelnden Erkrankung basiert vor allem auf klinischer Forschung aus Deutschland. An der medizinischen Hochschule Hannover haben Prof. Kirsten Müller-Vahl und ihr Team Studien zur Wirksamkeit von THC beim Tourette-Syndrom durchgeführt. Einige in der dortigen Spezialambulanz betreute Patienten hatten angegeben, dass sie durch Cannabiskonsum Linderung ihrer Symptome erfuhren. Eine zwischen 1994 und 1996 durchgeführte systematische Umfrage bei 64 Patienten hatte ergeben, dass 14 von 17 Patienten, die Erfahrungen mit dem Konsum von Cannabis gemacht hatten, eine gute Beeinflussung ihrer Symptome festgestellt hatten, zum Teil ein vollständiges Verschwinden der motorischen und vokalen Tics. Auch von einigen anderen Autoren waren zuvor vereinzelt solche Erfahrungen in Fachzeitschriften geschildert worden.
In der ersten Studie an der medizinischen Hochschule Hannover erhielt ein Patient einmalig zehn Milligramm THC, worunter sich seine Symptomatik deutlich besserte. In der zweiten Untersuchung erhielten mehrere Patienten einmalig fünf bis zehn Milligramm THC. Darunter nahmen die Tics und auch die Zwangsymptome ab. Stimmung, Gedächtnisleistung und Konzentrationsfähigkeit wurden bei dieser Dronabinol-Dosis nicht relevant beeinflusst.
In der dritten Studie wurden die Wirksamkeit und die Verträglichkeit von THC im Vergleich zu einem Plazebo bei 17 Patienten über einen Zeitraum von sechs Wochen untersucht. Ursprünglich hatten 24 Patienten mit der Studie begonnen, wobei jeweils 12 Patienten THC in Kapseln oder gleich aussehende und gleich schmeckende Plazebokapseln erhielten. Sieben Teilnehmer brachen die Studie jedoch vorzeitig ab oder wurden von der Auswertung ausgeschlossen, weil sie sich nicht an die Studienvereinbarungen hielten. Beispielsweise hatte ein Patient zusätzlich ein anderes Medikament eingenommen, ein anderer Patient wies einen negativen Urintest auf THC auf, obwohl er positiv hätte ausfallen müssen. Nur ein Patient brach die Studie wegen zu starker Nebenwirkungen (Angstzustände, die etwa 24 Stunden anhielten) ab. Es verblieben sieben auswertbare Patienten in der THC-Gruppe und 10 Patienten in der Plazebo-Gruppe. Die Dosierung erfolgte einschleichend mit 2,5 mg pro Tag, jeweils zum Frühstück oder zum Mittagessen, die dann je nach Verträglichkeit alle drei Tage bis auf eine Maximaldosis von täglich zehn Milligramm gesteigert wurde.
Gemessen wurden die Schwere der Tourette-Symptomatik und die psychomotorische Leistungsfähigkeit sowie einige weitere Parameter. Die Untersucher wussten jeweils nicht, ob die Patienten in der THC- oder in der Plazebogruppe waren. Die Symptome der Patienten wurden unter der Behandlung mit Dronabinol im Vergleich zum Plazebo deutlich gebessert. Im Allgemeinen waren die Verbesserungen am 30. oder 31. Tag größer als am 21. oder 22. Studientag, was als Hinweis darauf gedeutet werden kann, dass die Wirksamkeit von THC im Laufe der Studie zunahm.
Zusammenfassend üben THC und Cannabis offenbar positive Wirkungen beim Tourette-Syndrom aus, wenn auch bisher weltweit nur eine aussagekräftige Studie mit Patienten, die am Tourette-Syndrom leiden, vorliegt. Die therapeutischen Effekte sind zum Teil so ausgeprägt, dass die Symptome dieser stark beeinträchtigenden neuropsychiatrischen Erkrankung vollständig oder fast vollständig verschwinden. Im Allgemeinen sind dazu nur niedrige Dosen erforderlich, die bei den meisten Patienten noch nicht zu relevanten Nebenwirkungen führen.

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