Freitag, 3. Februar 2012

Rolys Silberscheiben des Monats Februar 2012

Marsimoto: Grüner Samt
four music

Mit seinem stilprägenden Album „Zum Glück in die Zukunft“ gelang Marteria 2010 der Durchbruch. In Anlehnung an die amerikanische HipHop-Koryphäe Madlib, der mit seinem Alter Ego Quasimoto die stilistische Blaupause lieferte, hat der Berliner Rapper auch ein stimmmodifiziertes Alter Ego, das sich unter dem Namen Marsimoto nach „Halloziehnation“ (2006) und „Zu Zweit Allein“ (2008) auf wieder alte, „grüne“ Werte besinnt und mit seiner Heliumstimme unserer Leserschaft sicherlich ein Begriff ist. „Out in the streets they call it Marsi. Endlich wird wieder gekifft. Du hast doch längst vergessen, wie das ist“, startet der Opener und Titeltrack sogleich mit dickem Dub-Bass. Auf den 18 atmosphärisch dichten, elektronischen Beatgerüsten seines neuen, ökologisch reinen Werks „Grüner Samt“ (natürlich als Hommage an den Heidelberger Deutschrap-Pionier Torch gedacht) rollt sich der Grünberliner einen Ofen nach dem anderen, rappt über die typische schleppende Rhythmik und zitiert sich mit Sprachwitz und viel Ironie einmal quer durch die Popkultur. So zieht Marsimoto neben Torch, den Beginnern und den Stiebers auch Luniz’ „I Got 5 On It“ aus der Kapuze und lässt die Menschheit mit ausgefeilten Geschichten und surrealen Anekdoten an seinen Bildern im Kopf teilhaben. Eine solche Fülle unterschiedlichster Querverweise zu präsentieren, ohne dabei auch nur einen Augenblick lang verkopft oder verkrampft zu erscheinen – Marsimoto erweist sich als unerschöpflich sprudelnder Ideenquell. Fans des Slow-Motion-Rhetorikers und Gras-Liebhabers dürfen sich über dessen Rückkehr freuen. Wortwitzig, absurd und ganz entspannt.
www.marsimoto.de
www.fourmusic.com


Chinese Man: Racing With The Sun
chinese man

Von vornherein war das Debütalbum der französischen Turntablism Crew Chinese Man als Soundtrack für einen nicht-existenten Film konzipiert – einen Western, spielend in der geisterhaften Kulisse des Wilden Westens und bevölkert von mysteriösen Charakteren, die auf „Racing With The Sun“ überall aufeinandertreffen. Dafür haben die drei französischen DJs High Ku, SLY und Zé Mateo monatelang obskure Schallplatten auf ihre Turntables gepackt und die Samples und Songfragmente zu 14 neuen Instrumentals zusammengeklebt. Mit Posaune, Orgel, Gitarre, Gamelan, Kontrabass und Percussion galt es, ihren Kurs von der Sonne bestimmen zu lassen und die Zen-beeinflussten Geister auf Grosses zu richten. Schon in der „Introduction“ (Morning Sun) werden wir nach Fernost katapultiert, nach dem eher orientalisch klingenden „If You Please“ reisen wir mit „Miss Chang“ (feat. Taiwan MC & Cyph4) und ihrem Mix aus HipHop und Ragga ins China der 50er Jahre. „Saudade“ betört mit besinnlicher Melodie, „Stand!“ (feat. Plex Rock) verbindet traditionelle Musik mit Oldschool-HipHop-Elementen, bevor auf dem Titeltrack Gospel mit UK Dub aufgefrischt und bei „Down“ ordentlich gescratcht wird. Ex-I, Lush One & Plex Rock kreuzen auf „Get Up“ zum Sound der Banjos die Schwerter für eine HipHop-Hymne, „J.O.G.J.A.“ (feat. M2MX, Dubyouth & Kill the DJ) ist ein wilder Ausflug in englischsprachige und javanesische Gefilde, auf dem ein Oldschool-Breakbeat mit Percussion-Spiel kombiniert wurde. Auf der Jagd nach dem chinesischen Drachen gibt’s hier einen entspannt groovenden Film, der erst beim Hören im Kopf entsteht. Erstklassige Vibes aus Toulouse.
www.myspace.com/chinesemanrecords
www.chinesemanrecords.com


Various Artists: Best Of Disco Demands
bbe music

Al Kent aus dem wohl eher Disco-freien Glasgow liebt die Tanzmusik der Siebziger. Der Schotte ist seit vielen Jahren ein besessener Sammler von Disco Maxi-Singles und bringt diese Perlen als DJ unter die Leute. 2005 schuf er das Projekt „Million Dollar Orchestra“, in dem er 20 Session-Musiker zusammenstellte, die die Musik einspielten, die er so liebt. Nach seinen beiden exquisiten Compilations „Disco Love“ und „Disco Love 2“ komme ich nun in den Genuss der fünfteiligen Reihe „Disco Demands“, die frisch gemastert und von Al Kent re-editiert als hochwertiges 5xCD-Boxset inkl. Poster des Covergirls bei BBE erscheint – ohne Frage etwas für Auge, Ohr und natürlich für das Tanzbein.
Für Sammler gibt es natürlich auch zwei wunderbare Doppelvinyls. Al Kent lässt mit 45 exklusiven Perlen den Charme des 70er Jahre Discosounds in einer erfrischenden Art wieder so aufleben, wie man ihn schon lange nicht mehr erlebt hat. Die Stücke klingen, obwohl ultra-rar und von unterschiedlichsten Labels, wie aus einem Guss und haben eine bestechende musikalische Qualität.
Meine Highlights sind „Let’s Go Disco” (TC & Company), „Disco Socks” (Omni), „How Can I Tell Her” (Curtis), „Disco Boogie Woman“ (Universal Robot Band), „Wave” (Cordial), „To Be With You” (Jimmy Sabater), „Party People” (Crosstown Traffic), „Get Ready” (Allan Harris & Perpetual Motion), „Party Together” (Superbs), „The Rock Is Gonna Get You” (Gordon’s War), „We’ve Got It” (Sylvano Santorio) und „Back In Time” (Brooklyn Express).
Feinster Rare Groove, ultra-funky „down to the ground“, sexy und hypnotisch – Al Kent bringt das Herz der Disco zum Pochen.
www.milliondollardisco.com
www.bbemusic.com


Bondage Fairies: Bondage Fairies
audiolith

Die beiden Stockholmer Musiker Elvis Creep und Deus Deceptor propagieren Synthesizer-Sex, fragen auf Schwulenhochzeiten gerne mal nach der Braut, wünschen sich zu sein wie He-Man und behaupteten in der Vergangenheit auch schon mal von sich selbst Roboter zu sein. Im Jahre 2006 veröffentlichen die beiden stets Space-Helm-tragenden Schweden ihr Debütalbum „What You Didn’t Know When You Hired Me“ mit einer eigenwilligen Mischung aus Punkrock, Indiepop, Electro-Clash und 8-Bit-Sounds. Im Rahmen der Tour zum 2009 erscheinenden Zweitwerk „Cheap Italian Wine“ legen Bondage Fairies mehr Reisekilometer zurück als es für eine Erdumrundung benötigt. Mit ihrer dritten, selbstbetitelten Platte haben sie sich vom Elektro-Duo zu einem Quartett hochgespielt und wollen nun erneut über das Label Audiolith die Lücke im System von Punk, Dance und Pop füllen. Und mit einem (leider nur) halbstündigen Feuerwerk an Hits zwischen C-64/Videogame- und Gitarren-Sound gelingt ihnen das auch. Die Texte haben sich die beissende Ironie erhalten und behandeln unter anderem Themen wie New Age, Eiszapfen im Backstage, eine Show in einem russischen Swinger-Club oder erzählen von Liebe und anderen Arten der Selbstzerstörung. So handelt die Single „1-0“ vom Schlussmachen und dem, was danach kommt. Grossartig sind auch die Indiepop-Nummer „Clone“, das charmant flirrende „Twenty Twelve“, das superhymnische „Devil“ und das dynamische „Star Signs“. Inzwischen verstehe ich auch den Namen der Band, denn diese Musik ist verzaubernd und lässt einen nicht mehr los. Auch sehr empfehlenswert: Susanne Blech’s neues Album „Triumph der Maschine“.
www.bondagefairies.se
www.audiolith.net


Deichkind: Befehl Von Ganz Unten
vertigo berlin

Hip Hop aus Hamburg sprudelte ab Mitte der 90er nur so vor guten Ideen. Viel Spaß und Spielfreude lieferten im Jahre 2000 auch Deichkind mit ihrem wortgewandt-witzigen Debütalbum „Bitte ziehen sie durch“ und Tracks wie „Fachjargon“, „Bon Voyage“, „Evergreens“, „Flammenmeer“ und „T2wei“. Kleine Skits über aufgebrachte Nachbarn, den Kiez oder merkwürdige Telefongespräche brachten mich ebenso zum Schmunzeln wie das Hörspiel „Schwiegervater“. Auf ihrem zweiten Album „Noch fünf Minuten Mutti“ (2002) drehten Buddy, Philipp, Malte und Sebi mit Schulterblick ins Elektrolager richtig auf. Beim „Aufstand im Schlaraffenland“ (2006) gab’s knackige Funk-Grooves, leckere Elektronik-Sounds und jede Menge unbekümmerte Pop-Melodien, „Arbeit nervt“ (2008) schenkte uns neben dieser fröhlichen Computerhymne so Lebensweisheiten wie „Kein Mensch ist illegal – vor allem, wenn er breit ist“, ganz auf der Höhe der aktuellen sozialen und politischen Diskurse. Nun führen Kryptik Joe, Ferris Hilton, DJ Phono & Porky ihren „Befehl Von Ganz Unten“ aus und rebellieren mit den Tracks „Illegale Fans“, „Bück Dich hoch“ sowie der Punk-Nummer „Die rote Kiste“ (feat. Slime), während es mit „Der Mond“ und „Der Strahl“ schön episch wird – ein Highlight ist auch das amüsante „Leider geil“. Deichkind weigern sich auch 2012 erwachsen zu werden und lassen daher keine Gelegenheit aus, ihre Zuhörer zu verwirren. Live gibt’s „ein eiskalt aufgewärmtes Konzept aus banaler Kulissenschieberei und Mummenschranz Sondergüte“. Tech-Rap, Hedonismus und Anarchie, frei nach der alten Boxer-Devise: „Wenn wir unten sind, ist unten oben.”
www.deichkind.de
www.vertigo.fm

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